Montag, 16. April 2007 Mercedes 300 SL Flügeltürer: Liebe macht blind
 Mercedes-Benz 300 SL von 1954
Gullwing, Möwenflügel, Flügeltürer: Wer konnte sich in Deutschland Mitte der Fünfziger schon einen Mercedes 300 SL für rund 30'000 Mark erlauben. 1400 Stück wurden von ihr, meiner Jugendliebe, in die Welt gesetzt. Ein Jammer, dass die meisten davon in den USA an völlig falsche Käufer gebracht worden sind.
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Die Schwellenangst ist berechtigt, denn der Mercedes-Benz 300 SL hat seine Flügeltüren nicht umsonst. Sie erst ermöglichen den Einstieg über die hohen und breiten Schweller über dem Gitterrohrrahmen von Entwicklungschef Uhlenhaut. Das Lenkrad lässt sich nach oben klappen. Das gibt Mut. Der verlässt den frisch "baggernden" potentiellen Liebhaber meines Kalibers aber sofort, wenn er sieht, wie eng der Tunnel ist, in den er jetzt hineinschlüpfen soll. Aber es passt, selbst für einen "big guy". Natur und Autotechnik finden eben immer wieder einen Weg. Aber wenn es dann endlich einmal losgeht, gibts kein Halten mehr, denn die riesigen Trommelbremsen scheinen dem verwöhnten Scheibenbrems-Aktivisten von heute nicht wirkungslos. Das Heraushalten einer Hand zur Vergrösserung des Luftwiderstands scheint da der erfolgreichere Weg des Bremsen, wenn es an Kraft im Oberschenkel fehlt. Hier ist der ganze Mann gefordert. Er muss Schenkel und Unterleib voll einzusetzen, um nicht schon bei der ersten Kurve im Nirwana zu verschwinden und vorzeitig zum Ende eines berauschenden Erlebnisses zu kommen. Wenn es zur Sache geht und alle 215 Pferdchen des Drei-Liter-Sechszylinders in den Galopp übergehen sollen, dann erreicht der 300 SL nach zehn Sekunden die 100 km/h-Marke, einen Wert, den heute bereits jeder halbwegs motorisierte Diesel mühelos unterbietet. Und dennoch kann keiner dieses unbeschreibliche Fortissimo aus Motorgeräusch und Vortrieb toppen. Hier spielt eine Musik, wie sie durch noch mehr Leistung und noch mehr Sexappeal beim Design nur schwerlich übertroffen werden kann. Andere beschleunigen besser und erreichen höhere Geschwindigkeiten als die maximal 260 km/h meiner Jugendliebe. Aber keiner kommt erotischer zur Sache. Was stören einen Fragen nach der Gestaltung des Cockpits, das für heutige Sportwagen immer noch als Vorbild dient? Wer fragt nach Sicherheitsgurten, Airbags, ESP und anderen Helfern, die einem die Freude am reinen Vergnügen zerstören? Normalerweise bin ich in dieser Hinsicht unerbittlich. Aber Liebe macht eben blind. Bei meiner Jugendliebe versagen solche rationalen Argumente. Hier zählt nur die Lust am puren und puristischen Auto. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten? Sicherlich nicht, denn wer möchte schon die Sicherheitselemente von heute missen, und wer könnte sich den SL heute noch leisten. Eigentlich muss man die Potenten bemitleiden, die sich den Nachfolger des SL kaufen. Sie bekommen nur eine Weiterentwicklung des einzig wahren 300 SL. Der Neue (McLaren SLR) ist dann zwar deutlich schneller und sicherer und braucht weniger Kraftstoff pro PS, aber er ist nur ein Topauto von heute und wahrscheinlich sogar billiger als ein gut erhaltenes Exemplar des Oiginal-Flügeltürers. So ist das, wenn man älter wird. Die Erinnerung an das erste Mal ist unauslöschlich, sagt man, selbst wenn man es erst ein halbes Jahrhundert zu spät erlebt. Dumm, dass einem Hotelzimmer und Prospekte immer wieder an versäumte Möglichkeiten erinnern. Möge die nächste Generation mehr Glück finden, mit dem Auto, im Auto oder anderswo. Von Peter Schwerdtmann
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